AnnaNoch eine Weihnachtsgeschichte

Die Adventszeit hatte gerade angefangen und Anna wäre am liebsten gar nicht mehr zur Schule gegangen, denn die drei, vier Wochen vor Weihnachten waren für sie die schlimmste Zeit des Jahres. Anna war ein stilles, kleines Mädchen, welches in diesem Jahr bereits in die dritte Klasse gekommen war. Ihre Eltern waren sehr arm und zu stolz, um von anderen Hilfe anzunehmen. So kam es, daß die Familie in einem reichen Land in vergleichsweise armen Verhältnissen leben mußte. In der Schule kam Anna nicht so recht mit, weil sie nachmittags auf ihren kleinen Bruder aufpassen mußte, während ihre Mutter arbeitete. Deshalb machten sich die anderen Kinder schon genug über sie lustig. Aber die Adventszeit war für sie die schlimmste Zeit des Jahres. Alle Kinder freuten sich auf Weihnachten, auf die vielen, vielen Geschenke, die sie bekommen würden.
Aufgeregt und mit leuchtenden Augen, mit roten heißen Wangen erzählten sie einander, was sie sich alles vom Christkind wünschten und jeder von ihnen hatte von seinen Eltern eine bunte Lichterkette geschenkt bekommen, die er im Fenster des Kinderzimmers aufgehängt hatte. "Zu mir", so ärgerten sie jedesmal Anna, "kommt das Christkind ganz bestimmt, schließlich habe ich die schönste Lichterkette im Fenster hängen, die es überhaupt zu kaufen gibt".
Und Anna weinte jedes Mal, denn sie hatte keine bunte Lichterkette, weil ihre Eltern ihr keine kaufen konnten. Sie wußte, daß es so war und sie mochte auch gar nicht fragen. Aber eines Tages, als es wieder einmal ganz besonders schlimm war, fragte sie ihre Mutter, ob sie nicht auch eine bunte Lichterkette für ihr Kinderzimmer, welches sie sich mit ihrem Bruder teilen mußte, haben könnte. Ihre Mutter sah sie nur traurig an. Plötzlich aber leuchteten ihre Augen, ein klein wenig nur. Sie stand wortlos auf, ging an den Küchenschrank und holte eine halb abgebrannte Kerze heraus, die gab sie ihrer Tochter und sagte: "Wenn du sie nicht so lange brennen läßt, kannst du sie bis Weihnachten jeden Abend einmal anmachen". Und Anna freute sich als hätte sie die größte und schönste Lichterkette geschenkt bekommen. Sie zündete ihre Kerze an, setzte sich davor und schaute in die Flamme. Das Licht wärmte ihr kleines Herz.
Am nächsten Tag, als sie die anderen Kinder wieder mit ihren bunten Lichterketten ärgern wollten, er zählte sie von ihrer Kerze. Aber die anderen Kinder lachten sie nur lauthals aus. "Wie soll denn das Christkind den Weg zu dir finden, wenn du einmal am Abend für fünf Minuten eine Kerze anmachst, eine winzig kleine häßliche Kerze?" Und Anna war wieder traurig und weinte; zündete aber jeden Abend ihre Kerze an.

So vergingen die Tage und Wochen und es wurde Heiligabend. Gemeinsam mit ihrer Familie ging Anna in die Kirche, wo sie auch all ihre Schulkameraden traf. Alle waren schon fürchterlich aufgeregt, nur Anna konnte sich gar nicht so recht freuen. Zuhause sangen ihre Eltern mit ihr ein Weihnachtslied, und sie zündete die Kerze an.
Währenddessen ging Jesus durch die Stadt. Er hörte mit Entsetzen das laute Schreien der Kinder, die sich gegenseitig wütend ihre Geschenke entrissen, schaute durch all die Fenster, wo Berge von unsinnigen Geschenken zu sehen waren, floh schließlich vor all den bunten Lichtern und fand sich vor Annas Haus wieder. Gerade noch sah er, wie die Kerze, welche Anna mit traurigen Augen anstarrte, verlöschte und ging hinüber. Er trat in das Haus, ohne daß sich eine Tür öffnete, ging zu Anna und berührte sie. In diesem Moment überkam Anna eine Freude, wie sie sie noch nie gekannt hatte. Kein Geschenk hatte sie bekommen, keine Plätzchen, keine Schokolade, kein neues Kleid, aber mit einem Male wußte sie, sie war nicht allein und sie würde nie mehr alleine sein. Das Leben hatte einen wunderbaren Klang gewonnen!

Schließlich war Weihnachten vorbei. Die Ferien gingen zu Ende und man traf sich auf dem Schulhof und erzählte von all den wunderbaren Geschenken. Vergessen hatten die Kinder, daß sie sich gar nicht richtig darüber gefreut hatten, daß sie eigentlich etwas anderes haben wollten und daß sie mit ihren Geschenken schon längst nicht mehr spielten. Aber um Anna zu ärgern, reichte es immer noch. Normalerweise! Diesmal aber erreichten sie mit ihren Protzereien nichts. Anna lächelte nur verträumt vor sich hin.

Anna - ©1994