Werden und Vergehen

Nach einer sehr sehr langen Zeit, in der klirrende Kälte das Land in eisernem Griff hielt und das weiße Leichentuch des Winters alle Hoffnung unter sich begrub, hatte endlich die Sonne ihren Siegeszug angetreten.
Sie hatte innerhalb weniger Tage aus der weißen Landschaft eine hoffnungsvoll braune, wenn auch recht schmutzige werden lassen.
Aber Sauberkeit bietet auch nicht die besten Voraussetzungen für neues Leben. Und so sproß bald aus der leblos wirkenden Erde ein zartgrüner Grashalm hervor.
Regen, Sonne und Erde ließen ihn wachsen und gedeihen, bis ein prächtiger saftiggrüner Halm aus ihm geworden war. Die Stunden reihten sich zu Tagen, die Tage zu Wochen und die Wochen zu Monaten. Es wurde Spätsommer. Der Regen fiel spärlicher, die Sonne schien sengend auf die Erde nieder.
Schließlich verdorrte der Grashalm. Hierdurch bildete er nun die beste Grundlage für etwas, das ihn genau in dieser Form für die eigene Existenz brauchte: Feuer!

Denn es lag zufällig ein Kristall in der Nähe des Grashalms.
An einem bestimmten Tag im Spätsommer ergab es sich, daß der Brennpunkt des wie eine Linie geformten Kristalls in Abhängigkeit vom Sonnenstand genau auf den verdorrten Grashalm fiel.
Zuerst war die Veränderung kaum zu bemerken, nur eine punktuelle Erwärmung, dann ein Schwelen, das Schwelen ging in Klimmen über und nach Erreichen einer exakt abgegrenzten Temperatur verbrannte der kleine Grashalm innerhalb kürzester Zeit mit grell leuchtender Flamme.

Was blieb war nichts als Asche - Basis für neues Leben im nächsten Jahr.

Werden und Vergehen - ©1988