Das MauerblümchenMauerblümchen

Es gab einmal ein Land, in dem man alles durch die Blume sagte.
In diesem Land schickte einmal ein Mann seine Freundschaft in Form eines Blumensamens auf die Reise.
Der Samen flog, leicht vom Wind getragen, bis zu einem Haus am Rande des Waldes.
Hier blieb er in einer Fuge der Hauswand hängen, trieb Wurzeln und wurde neben Moos, Gras und Unkraut zu einem hübschen kleinen Blümchen, einem Mauerblümchen.
Dies geschah unbemerkt von der Besitzerin des Hauses, einer klugen, schönen und lebenserfahrenen Frau.
Als sie eines Tages das Mauerblümchen entdeckte, wurde ihr Herz froh, doch ihr Verstand warnte sie und so sprach sie:
"Mein liebes Blümchen, würde ich dich weiterwachsen lassen, so könntest du die Mauern meines Hauses beschädigen.
Du könntest unerträglich schön werden, schöner als all meine anderen Pflanzen.
Du könntest in meinen Augen abgrundtief häßlich werden.
Du könntest mir wertvoll werden, so daß ich mich ob deines Verlustes ängstigen müßte und du könntest mir das Herz brechen, wenn du dereinst verwelkst. Meinst du nicht auch, daß es besser wäre, wenn ich dich rechtzeitig ausreiße?"

Nun, das Mauerblümchen war eben eine ganz normale Blume der Freundschaft, es konnte nicht reden und wollte auch nur durch seine Schönheit überzeugen...
So wurde es in den frühen Morgenstunden eines Tages ausgerissen, der dann niemandem mehr Trost und Hoffnung bringen konnte.
Seit jenem Tag glaubt niemand mehr so recht daran, daß es reine Freundschaft zwischen Mann und Frau geben kann.

Mauerblümchen - ©1989