Der Fürst und das Mädchensaurer Regen

Es war einmal, denn so fängt jedes Märchen an; es war also einmal in längst vergangenen Tagen, da lebte in einem großen Reich ein mächtiger Fürst. Der war schrecklich klug und schrecklich grausam. Deshalb haßten ihn all seine Untertanen. Er aber verlachte und verhöhnte sie, wo er nur konnte. Ein Menschenleben galt ihm nichts.
So geschah es eines Tages, daß er seine Gemeinheit soweit trieb, ein armes altes Ehepaar, welches die hohe Steuer nicht zahlen konnte, auf furchtbar grausame Art umzubringen.
Das Kind der alten Leute aber, ein Mädchen, schön wie Milch und Blut, konnte diesem Anschlag mit knapper Not entkommen und schwor dem Fürsten ewige Rache.
Als die Zeit gekommen war, kratzte das schöne Kind all seine Ersparnisse zusammen, kaufte sich davon bei einer Giftmischerin deren wirksamstes Gift, welches sogar Pferde getötet hätte, und schlich sich am Hofe des Fürsten als Dienstbote ein.
Schließlich begab es sich, daß ihre große Stunde kam. Der Fürst verlangte nach einem Kelche Wein und unsere tapfere Heldin sollte ihm diesen bringen.

Natürlich versetzte sie dem Wein eine ausreichende Dosis des Giftes ...
Den dargebotenen Wein genüßlich schlürfend, bedachte der Fürst das arme Mädchen mit allerlei frivolen Anspielungen. Mein Gott, wie wartete sie darauf, daß er tot umfiele, aber nichts geschah. Fassungslos, um ihre Rache betrogen, suchte sie ihre Kammer auf.
Nun, was soll ich sagen: Wie überall, wo Macht im Spiele ist, so gab es auch am Hofe des Fürsten eine Reihe von Denunzianten. Einer, dem der mißglückte Giftanschlag zu Ohren gekommen war, hinterbrachte seinem Herrn diese Nachricht. Der Fürst schäumte vor Wut, weil eine seiner Untergebenen ein solches Unterfangen in die Wege geleitet hatte. Er ließ das Mädchen zu sich rufen und befragte sie über ihre Gründe. Als er erfahren hatte, warum er sterben sollte, lachte er so fürchterlich, daß man ihn auch noch im letzten Winkel des Schloßes hören konnte. Dann erzählte er dem blühenden Kinde, er sei durch einen unglücklichen Zufall aus einer fernen Zukunft in dieses Land und diese Zeit verschlagen worden. Da, wo er zuhause sei, habe man sich längst an alle möglichen Gifte in den Nahrungsmitteln gewöhnt und auch Gefühle seien verpöhnt.

Mit diesem Wissen aber durfte unsere Heldin nicht weiterleben. Der Fürst ließ seine Henker kommen und sprach: "Verbrennt diese Hexe". Alles Bitten und Flehen war vergebens. Das Urteil wurde sogleich vollstreckt.
Während sich die schöne Maid noch in fürchterlichen Qualen wand, hatte der Fürst diesen "Zwischenfall" schon längst wieder vergessen.
Und wenn er nicht gestorben ist, dann lebt er heute noch.
Die schöne Jungfrau aber verfluchte alle Menschen, welche in der Zeit leben würden, aus der der Fürst kam.
Heute beginnt ihr Fluch zu wirken ...
Zuweilen sieht man sie in mondhellen Nächten mit den Wolken aus saurem Regen ziehen.

saurer Regen - ©1985